Strafrechtliche Erheblichkeit sexueller Handlungen

Der zur Tatzeit 21-jährige, im elterlichen Haushalt lebende, „gehemmte und eigenwillig sperrige” Angekl. fühlte sich nach der Trennung von seiner Freundin oft einsam.

STGB § 184g Nr. 1

1. Erheblich i.S.d. § STGB § 184g Nr. 1 StGB sind solche Handlungen, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen.

2. Zu den Anforderungen an die am Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung orientierten Bewertung. (Ls d. Schriftltg.)

BGH, Urteil vom 1. 12. 2011 – 5 StR 417/11 (LG Berlin)

Zum Sachverhalt:

Der zur Tatzeit 21-jährige, im elterlichen Haushalt lebende, „gehemmte und eigenwillig sperrige“ Angekl. fühlte sich nach der Trennung von seiner Freundin oft einsam. Er war auf der Suche nach körperlicher Nähe, die er besonders beim Küssen empfand. Aus diesem Grund näherte er sich in 7 Fällen zwischen dem 12. 8. 2008 und dem 17. 1. 2009 in seinem Wohnumfeld auf offener Straße jungen, ihm unbekannten Frauen, die ihn optisch ansprachen, umfasste sie jeweils von hinten und hielt sie fest. In einigen Fällen küsste er sie (Taten 1 und 3) oder verlangte, sie sollten ihn küssen (Tat 6), und berührte sie über der Kleidung an den Brüsten oder im Genitalbereich (Taten 2 bis 6). Er ließ jeweils von den Frauen ab, als sie sich wehrten oder Dritte auf das Geschehen aufmerksam

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wurden. 2 der Frauen trugen leichte körperliche Verletzungen davon (Taten 3 und 7).

b) Das LG hat sämtliche Taten als Nötigung gemäß § STGB § 240 STGB § 240 Absatz I und STGB § 240 Absatz II StGB gewertet und in den Fällen 3 und 7 jeweils tateinheitlich hierzu eine vorsätzliche Körperverletzung gemäß § STGB § 223 STGB § 223 Absatz I StGB angenommen. Eine Strafbarkeit wegen – vollendeter oder versuchter – sexueller Nötigung hat es in allen Fällen verneint. Eine sexuelle Handlung liege nicht vor, da es an der gemäß § STGB § 184g Nr. 1 StGB erforderlichen Erheblichkeit fehle. Bei den vom Angekl. vorgenommenen Handlungen handele es sich um Zudringlichkeiten und nur ganz flüchtige Berührungen oberhalb der Bekleidung. Da der Angekl. nicht mehr erstrebt habe als in Küssen und Umarmung bestehende Nähe, scheide auch eine Strafbarkeit wegen versuchter sexueller Nötigung aus. Von einer solchen wäre der Angekl. im Übrigen in jedem der Fälle gemäß § STGB § 24 STGB § 24 Absatz I StGB strafbefreiend zurückgetreten.

Das LG hat den Angekl. wegen Nötigung in 7 Fällen, davon in 2 Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Gegen das Urteil wandten sich die StA und hinsichtlich Fall 4 die Nebenklägerin K mit ihren jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen. Die Rechtsmittel hatten Erfolg.

Aus den Gründen:

2. Das angefochtene Urteil begegnet schon deshalb durchgreifenden Bedenken, weil die Beweiswürdigung des LGhinsichtlich der vom Angekl. verfolgten Ziele und damit zu seinem Tatvorsatz lückenhaft ist (vgl. BGH Urt. v. 2. 12. 2005 – BGH 02.12.2005 Aktenzeichen 5 StR 119/05, NJW 2006, NJW Jahr 2006 Seite 925, NJW Jahr 2006 Seite 928 – insoweit in BGHSt 50, BGHST Jahr 50 Seite 299 nicht abgedruckt).

Die StrK ist der Einlassung des Angekl., er sei lediglich auf der Suche nach körperlicher Nähe („Kuscheln“) gewesen, gefolgt, ohne dem widersprechende Umstände zu erwägen. Schon die vom Angekl. durchweg gewählte Art der Kontaktaufnahme – überraschendes gewaltsames Umfassen der jungen ihm unbekannten Frauen auf offener Straße von hinten – war offensichtlich ungeeignet, das vom Angekl. behauptete Handlungsziel zu erreichen. Zudem hat der Angekl. Handlungen vorgenommen, die über das angegebene Ziel hinausgingen und ersichtlich auf eine sexuelle Annäherung ausgerichtet waren:

In den Fällen 2 und 5 fasste er die Frauen an die Brust und den Genitalbereich, ohne dass ein von ihm erstrebtes Küssen als Ausdruck der körperlichen Nähe überhaupt angesprochen oder versucht wurde. Im Fall 4 umfasste er – seine Hose stand dabei offen – die Nebenklägerin K und berührte die Frau für wenige Sekunden an den Brüsten, ohne sie zu küssen oder dies zu versuchen. Das gleiche gilt im Fall 7, als er den Mund der Frau zuhielt. Im Fall 3 berührte er zunächst nach Öffnen eines Reißverschlusses die Brust der Frau und verlangte „richtiges Küssen“ erst, nachdem er die Frau so fest gegen eine Wand gedrückt hatte, dass sie Hämatome davontrug.

3. Die Tatserie bedarf demnach neuer Aufklärung und Bewertung. Nachdem das LG die Einlassung des Angekl. fehlerhaft bewertet hat, muss der Senat auch die objektiven Feststellungen in den Fällen aufheben, in denen diese allein auf der Einlassung des Angekl. beruhen.

Das neue Tatgericht wird zu bedenken haben, dass als erheblich i.S.d. § STGB § 184g Nr. 1 StGB solche Handlungen zu werten sind, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (BGH Urt. v. 24. 9. 1991 – BGH 24.09.1991 Aktenzeichen 5 StR 364/91, NJW 1992, NJW Jahr 1992 Seite 324). Bei der am Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung orientierten Bewertung sind auch die gesamten Begleitumstände des Tatgeschehens einzubeziehen und neben den näheren Umständen der Handlung die Beziehung zwischen den Beteiligten und die konkrete Tatsituation zu berücksichtigen (BGH Beschl. v. 8. 2. 2006 – BGH 08.02.2006 Aktenzeichen 2 StR 575/05, StraFo 2006, 251; Urt. v. 25. 7. 1989 – BGH 25.07.1989 Aktenzeichen 1 StR 95/89, NJW 1989, NJW Jahr 1989 Seite 3029; LK-Laufhütte/Roggenbuck 12. Aufl., § 184g Rn 12). Eine ergänzende Betrachtung des Gesamtzusammenhangs ist insbesondere dann geboten, wenn die Handlungen für sich genommen in ihrer sexuellen Ausprägung nicht besonders gravierend oder nachhaltig sind. In die Bewertung wird deshalb hier neben der (zum Teil eher geringen) Intensität der sexuellen Handlungen einzustellen sein, dass der Angekl. jeweils ihm unbekannte Frauen überraschend und unvermittelt von hinten angriff und sie unter beträchtlicher Kraftentfaltung körperlich so heftig bedrängte, dass sich die Frauen ihm nur durch erhebliche körperliche Gegenwehr entziehen konnten. …

Ku.